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Der schwedische Weg

In Deutschland sind seit mittlerweile sieben Wochen Restaurants und große Geschäfte geschlossen und auch die Maskenpflicht wird weitestgehend eingehalten. Während die ersten Läden bereits öffnen dürfen und auch die ersten Schulklassen wieder zur Schule gehen, fährt ein europäisches Land eine ganz andere Strategie: Schweden. 

In den Medien wurde in den letzten Wochen aus vielen unterschiedlichen Perspektiven über die schwedische Strategie berichtet. Sie wurde oft benutzt, um auf die Wirksamkeit oder eben die Wirkungslosigkeit von bestimmten Maßnahmen hinzuweisen, je nach persönlicher Einstellung des Autors oder der Autorin. Wir wollen hier einen kleinen Überblick, über die Fakten und den aktuellen Wissensstand zu Schwedens Situation geben. 

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern weltweit setzt Schweden auf die Strategie der Herdenimmunität oder auch „Mitigation“. So sollen sich junge, gesunde Personen nach und nach mit dem Virus infizieren, bis eine kritische Masse von etwa 60-70% erreicht ist und diese Herdenimmunität dann Risikogruppen vor der Infektion schützen kann. 

Also sind in Schweden die Schulen und Kindergärten nach wie vor in Betrieb, Restaurants und öffentliche Anlagen bleiben unter Einhaltung von Abstands- und Hygienemaßnahmen geöffnet und es gibt keine Einschränkungen im öffentlichen Nahverkehr. Für Jugendliche ab 16 Jahren und für Studierende wurde allerdings der Unterricht  ins Netz verlagert, Berufstätige sind angehalten im Homeoffice zu arbeiten und Risikogruppen werden aufgefordert sich selbständig zu isolieren. Außerdem sind öffentliche Veranstaltungen ab 50 Personen verboten. 

Die schwedische Regierung setzt auf die Eigenverantwortung der Bürger*innen, von denen sich auch ein großer Teil an die gebotenen Hygienemaßnahmen hält. Jedoch längst nicht jede und jeder. 

Die Grundlage für das Fehlen strengerer Maßnahmen bildet die schwedische Verfassung. Diese sieht keinen Ausruf des Notstands in Friedenszeiten vor, der größere Freiheitseinschränkungen erlauben würde. Außerdem werden in Schweden diese Entscheidungen in erster Linie nicht von Politiker*innen, sondern von den Mitarbeiter*innen im Folkhälsomyndigheten (FHM), der obersten schwedischen Public Health Institution, getroffen. 

Der Architekt der schwedischen Strategie ist der Chef des FHM Anders Tegnell, um den in Schweden gerade ein riesiger Personenkult herrscht und der in manchen Kreisen als Nationalheld gefeiert wird. Er selber bestätigt im Interview mit Nature seinen Glauben an den Erfolg seiner Strategie und argumentiert, dass es weltweit sehr wenig Beweise für den Erfolg strengerer Maßnahmen und Reisebeschränkungen gibt. Er glaube außerdem, dass bereits 25% der Menschen in Stockholm immun gegen das Virus sind, diese Zahl entstand durch Hochrechnungen aus stichprobenartigen Untersuchungen. 

 

Weiterlesen: https://bppblog.com/2020/04/23/the-swedish-exception/

 

Doch während viele Personen sowohl in Schweden als auch im Ausland an den Erfolg dieser Strategie glauben, gibt es auch scharfe Kritik an diesem Vorgehen. So haben 22 Wissenschaftler*innen bereits vor zwei Wochen in einem öffentlichen Brief die schwedischen Maßnahmen stark kritisiert und für eine Änderung der Strategie plädiert. Auch die Zahlen sprechen nicht unbedingt für einen Erfolg: In Schweden sind 21.092 Fälle identifiziert, davon 2.586 Tote und 1005 Genesene (Stand Freitag 12:00 Uhr; Quelle: Johns Hopkins). Damit liegt Schweden zwar unter dem europäischen Durchschnitt aber trotzdem wesentlicher höher als die nordischen Nachbarländer. Die Mortalität in Schweden gehört zu den höchsten 10 weltweit. 

Aktuell wird befürchtet, dass das Virus langsam Einzug in die schwedischen Pflege- und Altersheime erhält und die Mortalität im Verlauf noch signifikant ansteigen wird. 

Eines der stärksten Argumente für die schwedische Strategie war bisher die Vermeidung eines totalen wirtschaftlichen Einbruchs, wie wir ihn in Deutschland und eigentlich weltweit beobachten können. Doch obwohl Produktion und Verkauf bisher aufrecht gehalten wurden, kann sich auch Schweden nicht vollständig der Globalisierung entziehen. So wirken sich die weltweiten Umsatzeinbrüche mittlerweile auch negativ auf die schwedische Wirtschaft aus. Der internationale Währungsfond rechnet auch für Schweden dieses Jahr mit einem starken Einbruch des Bruttoinlandsproduktes nur unwesentlich geringer ausgeprägt als in Deutschland.

Vermutlich werden wir erst im Rückblick genau sagen können, welches Land oder welche Strategie nun am erfolgreichsten war und wer wirklich Recht hatte. Bis dahin sollte jedes Land seiner Verantwortung nachkommen und versuchen jede Gruppe in der Bevölkerung so gut es geht zu schützen. 

Weiterlesen:

https://www.theguardian.com/world/commentisfree/2020/may/01/sweden-coronavirus-strategy-nationalists-britain

https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-verwirrung-um-schwedischen-weg-in-coronavirus-krise.1939.de.html?drn:news_id=1125114