Kann bei COVID-19 eine Herdenimmunität erreicht werden?

Bereits am Beginn der Pandemie wurde der Begriff „Herdenimmunität“ hoffnungsvoll in den Raum gestellt. Jetzt, wo wir uns nun tatsächlich in der prophezeiten zweiten Welle befinden und sehr viele Menschen der Maßnahmen müde zu sein scheinen, tauchte die Hoffnung auf eine Erreichung der schützenden Herdenimmunität erneut auf. Zuletzt in Zusammenhang mit der sogenannten “Great Barrington Declaration”, einer Petition gestartet von amerikanischen Epidemiologen, die an Stelle der aktuellen Maßnahmen eine sogenannte focused protection fordern.

Der Vorschlag der Verfechter*innen der Herdenimmunität: Wir heben alle physical distancing Maßnahmen auf, schützen die Risikogruppen im besonderen Maße und beobachten, wie sich die restlichen Menschen nach und nach mit COVID-19 infizieren. Die Hoffnung ist, dass dadurch die besagte Herdenimmunität aufgebaut werden kann und somit nach einer gewissen Zeit niemand (bzw. nur noch sehr wenige Menschen) mehr infiziert werden kann.

Die folgende Grafik zeigt noch einmal anschaulich, wie die Herdenimmunität in der Theorie funktionieren soll. Dabei steht S (blau) für susceptible, also Menschen die potentiell mit dem Virus infiziert werden können, I (rot) für aktuell infiziert und R (gelb) für resistent bzw. immun.

Quelle: Randolph H, Barreiro L: Herd Immunity: Understanding COVID-19 in Immunity,Vol. 52(5), doi: https://doi.org/10.1016/j.immuni.2020.04.012

 

 

Der Haken an der Sache? Eine stabile Herdenimmunität wie sie beispielsweise bei den Pocken erreicht wurde, wird es im Fall von COVID-19 vermutlich nicht geben. Die Forschung ist hierzu noch längst nicht abgeschlossen, aber es liegt aktuell die Vermutung sehr nahe, dass unser Immunsystem nach einer durchgemachten COVID-19 Infektion keine lebenslange Immunität aufbaut. Es gab bereits Berichte von Re-Infektionen einzelner Personen, deren Ursachen allerdings noch nicht vollständig geklärt sind.

Es wäre also sehr gefährlich, sich einzig und allein auf die Strategie der Herdenimmunität zu verlassen. Vor dieser falschen Hoffnung warnt sowohl eine Gruppe international renommierter Expert*innen im Lancet, als auch die Deutsche Gesellschaft für Virologie.

Zusätzlich zu der hohen Wahrscheinlichkeit, dass besagte Herdenimmunität gar nicht erreicht werden kann, warnen sie hierbei unter anderem vor der Überforderung der Gesundheitssysteme, wenn sich zu viele Personen gleichzeitig anstecken, sowie einem Zusammenbruch der Wirtschaft durch den Ausfall vieler Arbeitskräfte.

 

Doch trotz der Warnung vor dem blinden Hoffen auf das Erreichen einer Herdenimmunität spielt die Anzahl der bisher Infizierten eine Rolle in der Eindämmung des Virus. Denn auch wenn höchstwahrscheinlich keine dauerhafte Immunität erreicht werden kann, trägt eine große Zahl an bereits Genesenen dazu bei, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und so eine Überfüllung der Intensivstationen und des Gesundheitssystems zu verhindern. Im Grunde also nichts anderes als das, was wir seit 6 Monaten durch unsere physical distancing Maßnahmen versuchen.

 

Weiterlesen: https://www.quarks.de/gesellschaft/wissenschaft/warum-natuerliche-herdenimmunitaet-eine-illusion-ist/

 

Annika Kreitlow